Genome der Erde
Das weltweit größte Projekt zur Gen-Entschlüsselung soll Ökologie und Kommerz friedlich vereinen.
"Ein Baum ist ein Computer, der mit Sonnenlicht betrieben wird", sagt der Peruaner Juan Carlos Castilla-Rubio. Der Biochemiker schaut offensichtlich mit Ingenieursblick auf die Amazonaswälder. Mit seiner Firma SpaceTime Ventures hilft er derzeit Biotechnologie-Start-ups in Brasilien dabei, sich von der Natur inspirieren zu lassen.
Im April ist Castilla-Rubio nach Berlin gereist, um beim "Welt-Bioökonomie-Gipfel" für sein Traumziel zu werben: ein Eldorado der Genomdaten. Der 55-Jährige ist Mitbetreiber eines neuen wissenschaftlichen Megavorhabens: Earth BioGenome Project (EBP). Dessen Initiatoren wollten nicht nur das Erbgut aller Bäume entschlüsseln, katalogisieren und nutzbar machen, erklärt der Unternehmer mit Verve in Berlin, sondern auch jenes sämtlicher anderer Pflanzen, der Tiere und Pilze. Die Erbinformationen sollen helfen, die weltweit gefährdete Biodiversität zu retten und zugleich den globalen Süden nachhaltig zu entwickeln. Man werde "das Leben sequenzieren, damit das Leben eine Zukunft hat", so beschreibt eine Website des EBP diesen "wohl ehrgeizigsten Vorschlag in der Geschichte der Biologie".
Ist das visionär oder eher größenwahnsinnig? Immerhin, hinter dem Projekt stehen 25 Evolutionsbiologen, Ökologen, Molekulargenetiker oder Botaniker aus Top-Hochschulen, Naturkundemuseen, Genomik-Instituten. Die meisten kommen aus USA, einzelne aus Europa und China. Vergangene Woche enthüllten sie in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences ihren Plan. Demnach sollen die Genome von 1,5 Millionen bekannten Eukaryoten auf dem Planeten erfasst werden. So nennt man alle höheren Lebewesen, deren Zellen einen Kern haben. Bisher seien erst 0,2 Prozent sequenziert, schreiben die Initiatoren. Sie hoffen, darüber hinaus in die Terra incognita von bis zu 13,5 Millionen noch unerfassten Spezies vorzudringen. 4,7 Milliarden Dollar soll das zehn Jahre dauernde Mammutprojekt kosten.
Wenn dann alle Genome offenlägen, werde man im Vergleich die Entwicklungswege der Evolution ablesen und die Funktionsweisen der Ökosysteme besser verstehen, hoffen die Forscher. Gefährdete Arten könnten dann zielstrebiger erhalten, ja ihre Bestände erneuert werden – auch indem man sie eines Tages biotechnologisch nachbaut. Zusätzlich sollen die Erbgutinformationen als Ressourcen dienen für "biobasierte" Produkte, von Bioenergie über Biochemikalien und -materialien bis zu neuen Pharmazeutika.
Möglich erscheint das den Wissenschaftlern durch rasante Fortschritte in der Gentechnik. "Die Biologie ist digital und daher zugänglich fürs Konstruktionsdenken des Ingenieurs", sagt Juan Carlos Castilla-Rubio. "In einem Labor in Boston kann man Gene von fünf Arten aus fünf Kontinenten in einer Hefe kombinieren, um ein Medikament herzustellen." Teams der Synthetischen Biologie wollen sogar ganz neue Organismen erzeugen. Das EBP soll die Informationsgrundlagen dafür systematisieren.
Das alles verheißt in Castilla-Rubios Augen eine "Multi-Billionen-Dollar-Bioökonomie". Allein von den Daten des Humangenom-Projekts habe die amerikanische Wirtschaft mit einer Billion Dollar aus neuen Industrien und Jobs profitiert, behauptet der Mann aus Peru. "Und nun stellen Sie sich mal den enormen wirtschaftlichen Wert vor, wenn wir das ganze große Buch des Lebens entziffert haben!"
Pilotregion soll der Amazonas werden. Südamerikas letzte Urwälder sind durch Raubbau und Erderwärmung bedroht. Dabei bergen sie ein Viertel der globalen Biodiversität an Land. Ihren Datenschatz zu heben, meint Castilla-Rubio, sei "der einzige Entwicklungspfad, der den Wald nicht mehr zerstört, global konkurrenzfähig ist und die Menschen einbezieht". Die erhofften Gewinne daraus sollen nämlich auch den Ursprungsländern der Artenvielfalt zugutekommen. Um das zu gewährleisten, baut Castilla-Rubio ein Schwesterprojekt des EBP auf, die Earth Bank of Codes. Ihre Aufgabe sei es, alle Genomdaten frei zugänglich zu machen und dafür zu sorgen, dass private Unternehmen ihr Wissen mit Regierungen und indigenen Völkern teilen.
Wie realistisch ist die Totalsequenzierung?
Ohne ein solches Versprechen würden die Sequenzierer allerdings auch kaum Zugang zu den Pflanzen und Tieren erhalten. Sie wissen: Nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung sind Südamerika, Asien und Afrika extrem empfindlich gegenüber Biopiraten und Patentjägern. Und noch immer werden die gemeinschaftlichen Wissenssysteme indigener Völker von Interessen invasiver Nutzer überrollt. Um das einzudämmen, wurde 2010 in zähen Verhandlungen das Nagoya-Protokoll beschlossen. Als Teil der Konvention über biologische Vielfalt (CBD) regelt es den Zugang zu Bioressourcen und fordert einen fairen Vorteilsausgleich, wenn zum Beispiel ein Pharmaunternehmen aus Pflanzendaten Kapital schlägt.
An diesen Vertrag werde man sich streng halten, versichern die Genomsequenzierer. Die Earth Bank of Codes soll entsprechende Verträge zwischen Ressourceninhabern und -nutzern aufsetzen. Die dafür notwendigen komplizierten Datensätze aus Biocodes und Eigentumsrechten will Castilla-Rubio per Blockchain – einer Art transparenter und sicherer Datenbank –und künstlicher Intelligenz bewältigen.
Seinen Vorschlag sieht er als Teil eines "dritten Wegs" zur Entwicklung der Amazonasregion. Dort habe sich der klassische Naturschutz als unzulänglich erwiesen, weil er nur Zäune um Schutzzonen gebaut, aber die Menschen vernachlässigt habe. Der massenhafte Sojaanbau brachte Entwicklung – aber mit der Kettensäge. Die Earth Bank of Codes nun werde "Wissen schürfen statt realer Ressourcen".
Der Mann denkt wirklich gern groß – doch Kritiker haben auch eine Menge Fragen. Dient die Rhetorik der Superlative mit all den Nachhaltigkeits-Buzzwords vor allem dazu, Forschungs- und Fördergelder an Land zu ziehen? Sie übertönt jedenfalls laut die bisher eher schwachen Erfolge der Bioökonomie. Dass die Partnerschaft zwischen dem Sequenzierungskonsortium und der Earth Bank Anfang des Jahres im Rahmen des World Economic Forum besiegelt wurde, dürfte auch nicht nur daher rühren, dass Juan Carlos Castilla-Rubio einem globalen Zukunftsbeirat in Davos angehört. Dort treffen sich auch die Mächtigen und Reichen, also potenzielle Sponsoren. Wie realistisch ist so eine Totalsequenzierung überhaupt? Es gibt zwar schon globale Vorhaben, aber in viel kleinerem Maßstab. Beim Earth Microbiome Project etwa untersucht eine Vielzahl von Forschern bei 200.000 Proben anhand nur eines kleinen Teils des Genoms die Vielfalt der Mikroben auf dem Planeten.
Allerdings: Auch dieses Unterfangen sei bei seinem Start vor acht Jahren noch als utopisch belächelt worden, sagt einer seiner Zulieferer, der Limnologe Hans-Peter Grossart. Seither sei die digitale Sequenzierungstechnik immer schneller und billiger geworden, und ein Ende dieser Beschleunigung sei nicht abzusehen. Deshalb hält er auch das Earth-BioGenome-Projekt für "sehr ambitioniert, aber vorstellbar".
Zweifel hat Grossart eher, ob bei der großen Zahl von Lebewesen immer eine gute Qualität der Genome gewährleistet werden kann. Außerdem gebe es eine Bedingung: "Die wissenschaftliche Erkenntnis muss Vorrang vor der wirtschaftlichen Nutzung haben." Denn nur dann sei gewährleistet, sagt Grossart, "dass solche wertvollen Arbeiten dem Wohle der Menschheit dienen".
Ähnliche Bedenken treiben den Leiter des Nachhaltigkeits-Thinktanks TMG um, der zuvor bei der UN-Welternährungsorganisation gearbeitet hat. "Wer verhindert, dass die großen multinationalen Unternehmen ihre Macht ausnutzen, um aus den frei zugänglichen Genomdaten neue Monopole zu entwickeln?", fragt Alexander Müller. "Oder dass am Ende eine Art Facebook für Daten über das Leben entsteht?"
Müller befürchtet auch, eine Großinstitution wie die Earth Bank of Codes werde das fragile, über Jahre ausgehandelte System des Zugangs- und Vorteilsausgleichs im Nagoya-Protokoll letztlich doch untergraben: "Schon heute funktioniert der Ausgleich bei genetischen Ressourcen für die Welternährung in der Praxis überhaupt nicht." Alle Regierungen müssten kooperieren, um solchen Risiken vorzubeugen.
Lili Fuhr von der Nichtregierungsorganisation ETC Group sorgt sich überdies um eine Erosion des Vorsorgeprinzips. Wenn Arten biosynthetisch wiederbelebt oder ganz neu gestaltet würden, kritisiert sie, dann seien die Auswirkungen auf Ökosysteme und Gesellschaften gänzlich unbekannt.
Bei allem Optimismus, dass seine "inklusive Bioökonomie" gelingt: Für Risiken und Nebenwirkungen ist auch Juan Carlos Castilla-Rubio nicht blind. Seine Genomdatenbank soll deshalb als Sachwalterin eines öffentlichen Gutes nicht privat geführt werden, sondern von Regierungen und der Gesellschaft. Sonst, sagt der Biotech-Unternehmer, könnten "die heutigen Debatten über den Missbrauch persönlicher Daten im Internet nur ein blasser Vorgeschmack auf jene bei den Codes des Lebens sein".
Ohne ein solches Versprechen würden die Sequenzierer allerdings auch kaum Zugang zu den Pflanzen und Tieren erhalten. Sie wissen: Nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung sind Südamerika, Asien und Afrika extrem empfindlich gegenüber Biopiraten und Patentjägern. Und noch immer werden die gemeinschaftlichen Wissenssysteme indigener Völker von Interessen invasiver Nutzer überrollt. Um das einzudämmen, wurde 2010 in zähen Verhandlungen das Nagoya-Protokoll beschlossen. Als Teil der Konvention über biologische Vielfalt (CBD) regelt es den Zugang zu Bioressourcen und fordert einen fairen Vorteilsausgleich, wenn zum Beispiel ein Pharmaunternehmen aus Pflanzendaten Kapital schlägt.
An diesen Vertrag werde man sich streng halten, versichern die Genomsequenzierer. Die Earth Bank of Codes soll entsprechende Verträge zwischen Ressourceninhabern und -nutzern aufsetzen. Die dafür notwendigen komplizierten Datensätze aus Biocodes und Eigentumsrechten will Castilla-Rubio per Blockchain – einer Art transparenter und sicherer Datenbank –und künstlicher Intelligenz bewältigen.
Seinen Vorschlag sieht er als Teil eines "dritten Wegs" zur Entwicklung der Amazonasregion. Dort habe sich der klassische Naturschutz als unzulänglich erwiesen, weil er nur Zäune um Schutzzonen gebaut, aber die Menschen vernachlässigt habe. Der massenhafte Sojaanbau brachte Entwicklung – aber mit der Kettensäge. Die Earth Bank of Codes nun werde "Wissen schürfen statt realer Ressourcen".
Der Mann denkt wirklich gern groß – doch Kritiker haben auch eine Menge Fragen. Dient die Rhetorik der Superlative mit all den Nachhaltigkeits-Buzzwords vor allem dazu, Forschungs- und Fördergelder an Land zu ziehen? Sie übertönt jedenfalls laut die bisher eher schwachen Erfolge der Bioökonomie. Dass die Partnerschaft zwischen dem Sequenzierungskonsortium und der Earth Bank Anfang des Jahres im Rahmen des World Economic Forum besiegelt wurde, dürfte auch nicht nur daher rühren, dass Juan Carlos Castilla-Rubio einem globalen Zukunftsbeirat in Davos angehört. Dort treffen sich auch die Mächtigen und Reichen, also potenzielle Sponsoren. Wie realistisch ist so eine Totalsequenzierung überhaupt? Es gibt zwar schon globale Vorhaben, aber in viel kleinerem Maßstab. Beim Earth Microbiome Project etwa untersucht eine Vielzahl von Forschern bei 200.000 Proben anhand nur eines kleinen Teils des Genoms die Vielfalt der Mikroben auf dem Planeten.
Allerdings: Auch dieses Unterfangen sei bei seinem Start vor acht Jahren noch als utopisch belächelt worden, sagt einer seiner Zulieferer, der Limnologe Hans-Peter Grossart. Seither sei die digitale Sequenzierungstechnik immer schneller und billiger geworden, und ein Ende dieser Beschleunigung sei nicht abzusehen. Deshalb hält er auch das Earth-BioGenome-Projekt für "sehr ambitioniert, aber vorstellbar".
Zweifel hat Grossart eher, ob bei der großen Zahl von Lebewesen immer eine gute Qualität der Genome gewährleistet werden kann. Außerdem gebe es eine Bedingung: "Die wissenschaftliche Erkenntnis muss Vorrang vor der wirtschaftlichen Nutzung haben." Denn nur dann sei gewährleistet, sagt Grossart, "dass solche wertvollen Arbeiten dem Wohle der Menschheit dienen".
Ähnliche Bedenken treiben den Leiter des Nachhaltigkeits-Thinktanks TMG um, der zuvor bei der UN-Welternährungsorganisation gearbeitet hat. "Wer verhindert, dass die großen multinationalen Unternehmen ihre Macht ausnutzen, um aus den frei zugänglichen Genomdaten neue Monopole zu entwickeln?", fragt Alexander Müller. "Oder dass am Ende eine Art Facebook für Daten über das Leben entsteht?"
Müller befürchtet auch, eine Großinstitution wie die Earth Bank of Codes werde das fragile, über Jahre ausgehandelte System des Zugangs- und Vorteilsausgleichs im Nagoya-Protokoll letztlich doch untergraben: "Schon heute funktioniert der Ausgleich bei genetischen Ressourcen für die Welternährung in der Praxis überhaupt nicht." Alle Regierungen müssten kooperieren, um solchen Risiken vorzubeugen.
Lili Fuhr von der Nichtregierungsorganisation ETC Group sorgt sich überdies um eine Erosion des Vorsorgeprinzips. Wenn Arten biosynthetisch wiederbelebt oder ganz neu gestaltet würden, kritisiert sie, dann seien die Auswirkungen auf Ökosysteme und Gesellschaften gänzlich unbekannt.
\Bei allem Optimismus, dass seine "inklusive Bioökonomie" gelingt: Für Risiken und Nebenwirkungen ist auch Juan Carlos Castilla-Rubio nicht blind. Seine Genomdatenbank soll deshalb als Sachwalterin eines öffentlichen Gutes nicht privat geführt werden, sondern von Regierungen und der Gesellschaft. Sonst, sagt der Biotech-Unternehmer, könnten "die heutigen Debatten über den Missbrauch persönlicher Daten im Internet nur ein blasser Vorgeschmack auf jene bei den Codes des Lebens sein".